Die Deutsche Presseagentur informierte am 2.7.2001 mit der Meldung:
"Forscher verlassen aus Protest Georg-Büchner-Gesellschaft"
Im Rundfunk wurde die dpa-Meldung am gleichen Tag von drei Regionalsendern
verbreitet. Zudem sendete der SWR 2 am 3.7.2001 ein Gespräch
mit Jan-Christoph Hauschild zum Hintergrund der Kontroversen.
Regionale und überregionale Tageszeitungen gaben die dpa-Meldung,
z.T. mit geringfügigen Abweichungen, weiter:
Frankfurter Rundschau vom 3.7.2001:"Georg-Büchner-Gesellschaft.
Streit sorgt für Austritte von Forschern";
Netzeitung, vom 3.7.2001: "Eklat bei der Büchner-Gesellschaft.
Streit unter Deutschlands Büchner-Experten: Mit ihrem Austritt
protestieren namhafte Wissenschaftler gegen die Politik der Büchner-Gesellschaft";
Main-Rheiner vom 3.7.2001: "Forscher streiten heftig um Büchner",
Thüringische Landeszeitung vom 3.7.2001: "Zu enge Verquickung.
Forscher verlassen aus Protest Georg-Büchner-Gesellschaft".
Eine Kurzmeldung in der Westdeutschen Zeitung vom 3. 7. 2001 bringt
die Fakten schlüssig durcheinander, indem sie kurz und bündig
zusammenfaßt: "Jan-Christoph Hauschild, Düsseldorfer
Büchner-Biograf, hat nach Henri Poschmann und Herbert Wender
seine Mitarbeit in der Büchner-Gesamtausgabe im Deutschen Klassiker
Verlag wegen Differenzen mit der Büchner-Gesellschaft gekündigt."
Die folgenden Zeitungen gingen mit eigenen
Beiträgen, die hier, anschließend an den Text
der dpa-Meldung, dokumentiert werden, auf das Thema ein:
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.7.2001:
"Wir Philologen. Streit in der Georg-Büchner-Gesellschaft";
Oberhessische Presse vom 12.7.2001: "Streit
um Forschung zu Büchner" von Manfred Hitzeroth;
Saarbrücker Zeitung vom 12.7.2001: "Nur
Philologengezänk? Von Gesamtausgaben, Klüngel und angeblichen
Intrigen. Warum die Büchner-Gesellschaft in Verruf geraten
ist und mehrere Büchner-Forscher inzwischen ihren Austritt
erklärt haben". Von Christoph Schreiner.
Frankfurter Rundschau vom 17.7.2001: "Der
philologische Ego-Trip. Über die Paralyse der Georg Büchner-Gesellschaft".
Von Heribert Kuhn.
Süddeutsche Zeitung vom 22.2.2002: "Der Himmel
ist leer. Fußnotenkrieg: Wie die Philologen um Georg Büchner streiten".
Von Michael Ott.
dpa, 2. Juli 2001:
Forscher verlassen aus Protest Georg-Büchner-Gesellschaft
Marburg/Saarbrücken (dpa) - Im Streit um die wissenschaftliche
Linie der Georg-Büchner-Gesellschaft in Marburg sind mehrere
Forscher aus der Gesellschaft ausgetreten. Nach dem Herausgeber
der Büchner-Gesamtausgabe im Deutschen Klassiker Verlag, Henri
Poschmann (Weimar), und dem Saarbrücker Büchner-Spezialisten
Herbert Wender habe am Sonntag auch der Düsseldorfer Büchner-Biograf
Jan-Christoph Hauschild seine Kündigung eingereicht. Dies teilte
Wender am Montag der dpa in Frankfurt mit.
Der Vorsitzende der Büchner-Gesellschaft, Prof. Burghard Dedner,
sagte dagegen, bei dem Streit gehe es weniger um wissenschaftliche
Fragen als um «verletzte wissenschaftliche Eitelkeiten». Von den
350 Mitgliedern der Gesellschaft seien bisher nur fünf aus
Protest ausgetreten, von daher handele es sich bei den Kritikern
um «Einzelstimmen».
Die Forscher kritisieren eine zu enge Verquickung der Büchner-Gesellschaft
mit der Büchner-Forschungsstelle an der Marburger Philipps-Universität.
Die Forschungsstelle arbeite an einer eigenen historisch-kritischen
Büchner-Edition, daher torpediere die Büchner-Gesellschaft
seit Jahren die Veröffentlichungen anderer Forscher, kritisierte
Wender. «Was von der Konkurrenz kommt, wird entweder ignoriert oder
schlecht gemacht.»
Dedner, der zugleich Leiter der Uni-Forschungsstelle ist, wies
die Vorwürfe zurück. Die Büchner-Gesellschaft torpediere
keine Forschungsergebnisse, beispielsweise habe die Gesellschaft
Poschmann seinerzeit an den Frankfurter Verlag vermittelt. Vielmehr
habe Wender seinerseits angekündigt, alles unternehmen zu wollen,
um die Edition der Forschungsstelle zu verhindern.
Auch der Vorwurf, die Büchner-Gesellschaft drucke kritische
Beiträge nicht in ihrem Jahrbuch ab, sei haltlos. Wender habe
erst kürzlich zwei Aufsätze im Jahrbuch veröffentlicht.
Das «Kesseltreiben gegen uns» erklärt sich Dedner mit Profilierungsstreben
und der Konkurrenz um Forschungsgelder. «Büchner ist ein enges
Forschungsfeld, auf dem sich viele tummeln.» Bedauerlicherweise
sei die an sich wünschenswerte wissenschaftliche Auseinandersetzung
über Büchner im Verlauf des Streits auf eine persönliche
Ebene gezogen worden. Einer wissenschaftlichen Gesellschaft sei
dies nicht würdig, sagte Dedner. dpa np yyhe mh 021637 Jul
01
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Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 5. Juli 2001:
Wir Philologen
Streit in der Georg-Büchner-Gesellschaft
Um die Georg-Büchner-Gesellschaft und die Marburger Büchner-Forschungsstelle
ist ein Streit entbrannt. Nachdem vor anderthalb Jahren der Weimarer
Henri Poschmann die Gesellschaft verlassen hatte, erklärte
vor einem halben Jahr der Saarbrücker Büchner-Forscher
Herbert Wender seinen Austritt aus der Gesellschaft. Am vergangenen
Sonntag folgte ihm der Büchner-Biograph Jan Christoph Hauschild.
Die Kritiker, so Wender in einer Erklärung, beanstanden eine
"zu enge Verquickung der Büchner-Gesellschaft mit der
universitären Forschungsstelle". Man habe von Marburg
aus, wo an einer historisch-kritischen Edition gearbeitet wird,
die Veröffentlichungen anderer Forscher "torpediert",
kritisierte Wender. "Was von der Konkurrenz kommt, wird entweder
ignoriert oder schlecht gemacht." Der Leiter der Marburger
Forschungsstelle, Burghard Dedner, wies gegenüber dieser Zeitung
die Vorwürfe Wenders zurück. Nicht nur seien die wissenschaftlichen
Leistungen der Marburger Büchnerforschung international anerkannt.
Auch den Kritikern habe man selbstverständlich wiederholt im
Jahrbuch der Gesellschaft Raum gegeben. Die enge Verbindung einer
literarischen Gesellschaft mit universitären Forschungsstellen
oder Archiven sei kein Marburger Spezifikum, sondern auch andernorts,
etwa bei der Heine- oder der Schiller-Gesellschaft, durchaus üblich.
Von einer "Torpedierung" anderer Gelehrter könne
keine Rede sein. Gerade Poschmann sei von der Marburger Forschungsstelle
an den Frankfurter Klassiker-Verlag vermittelt worden, wo er Büchners
Werke herausgab. Vergeblich habe man Poschmann immer wieder zu Diskussionsbeiträgen
über die kontroversen Forschungsergebnisse der Marburger eingeladen.
F.A.Z.
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Oberhessische Presse, 12.
Juli 2001
Streit um Forschung zu Büchner
Marburg. Eine wissenschaftliche Kontroverse in der Marburger Büchner-Gesellschaft,
deren Vorsitzender der Germanistik-Professor Burghard Dedner ist,
hat zu drei Austritten prominenter Büchner-Forscher geführt.
"Rufmordanschlag der niederträchtigsten Art": So
lautet einer der Vorwürfe des ausgetretenen Forschers Henri
Poschmann (Weimar). "Verletzte wissenschaftliche Eitelkeiten"
sieht hingegen Dedner.
DAS THEMA: Streit in der Büchner-Forschung
Marburg. Der Austritt von drei Büchner-Forschern
aus der Büchner-Gesellschaft mit Sitz in Marburg ist das
Resultat jahrelanger Streitigkeiten, die mit wissenschaftlichen
Kontroversen begannen und mittlerweile auch in persönliche
Fehden ausarteten. "Die Büchner-Forschung ist ein Schlachtfeld"
schrieb beispielsweise die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"
in einem Artikel über die ersten vier Bände der historisch-kritischen
Werkausgabe.
Eine ausführliche Darstellung der
Kontroversen im Internet sowie Debatten in Jahrbüchern und
Artikel in überregionalen Zeitungen zeigen die Vielfalt der
geführten Auseinandersetzungen. Anfang Juli wandte sich Herbert
Wender, einer der ausgetretenen Forscher, mit seinen Vorwürfen
an die "Deutsche Presseagentur" Er kritisiert vor allem
eine zu enge Verquickung von Büchner-Gesellschaft und Büchner-Forschungsstelle.
Die Büchner-Forschung befasst sich
mit dem Werk des radikaldemokratischen Dichters Georg Büchner
(1813 bis 1837), Verfasser so bedeutender Dramen wie "Woyzeck"
oder "Dantons Tod"
Germanisten fahren "schwere Geschütze" gegeneinander
auf
Scharfe wissenschaftliche Kontroversen in Forschung zu Georg
Büchner
Fortsetzung von Seite l von Manfred Hitzeroth
"Die Kontroversen der Büchner-Forscher werden traditionell
immer grundsätzlich und mit viel Lust am Streit ausgetragen",
sagt der Marburger Germanistik-Professor Burghard Dedner, Leiter
der Büchner-Gesellschaft und der Büchner-Forschungsstelle
(siehe "Stichwort"). Schließlich sei der Gegenstand dafür
auch geeignet. Die Interpretation des kurzen Lebens und Schreibens
des Schriftstellers Georg Büchner ("Woyzeck", "Lenz")
und Autors des "Hessischen Landboten" (mit dem berühmten
Ausspruch "Friede den Hütten, Krieg den Palästen")
sei schon immer unter den Linken stark umstritten gewesen.
Doch die Anwürfe der ehemaligen Gesellschaftsmitglieder und
jetzigen scharfen Gegner Poschmann, Hauschild und Wender gegen die
Arbeit in der Marburger Forschungsstelle gehen Dedner dann doch
zu weit. "Die Kritik soll uns schädigen" sagt Dedner.
Nach seiner Vermutung sollen die in polemischer Form vorgetragenen
Vorwürfe dazu dienen, dass die Geldgeber der in Marburg begonnenen
historisch-kritischen Gesamtausgabe die Finanzierung einstellen
oder stoppen. Nach jahrelanger Förderung durch die "Deutsche
Forschungsgemeinschaft" kommt der Großteil des Geldes
derzeit von der "Akademie der Wissenschaft und der Literaturen"
(Mainz).
Die Gegner fahren schwere Geschütze auf. "Rufmordanschlag
der niederträchtigsten Art" oder "geradezu legalisierter
Terrorismus, der ohne Untersuchung und sogar ohne Anklage kurzen
Prozess macht": Anschuldigungen wie diese erhebt Henri Poschmann,
Büchner-Experte aus Weimar, vor allem gegen Dr. Thomas Michael
Mayer, Mitarbeiter und Mitbegründer der Forschungsstelle Marburg.
Verärgert ist Poschmann vor allem über eine Kurzkritik
von Mayer gegen seine zweibändige Gesamtausgabe, die in der
Klassiker-Edition im Insel-Verlag erschienen ist. Mit den Worten
"wissenschaftlich nicht zitierbar" wird die Poschmann-Ausgabe
im aktuellen Büchner-Jahrbuch (2000) sozusagen "abgebürstet".
Rund 400 Fehler seien darin zu finden, behauptet Mayer. "Wieso
hat er dann nur vier Fehler aufgezählt, davon drei Zeichenfehler",
fragt Poschmann. Die vier Fehler seien beispielhaft gemeint gewesen,
sagte Mayer gegenüber der OP. Er will die Aufzählung der
weiteren Fehler nun in einem weiteren Aufsatz in Angriff nehmen.
Besonders erbost ist Poschmann darüber, dass die Kritik nur
in einer Fußnote eines mehr als 100-seitigen Aufsatzes zu
finden ist, in dem Mayer vorwiegend die Büchner-Biographie
des Düsseldorfer Forschers Jan-Christoph Hauschild angreift.
Entsetzt zeigte sich Poschmann allerdings auch über eine ausführliche
und vernichtende Kritik seiner zweibändigen Büchner-Ausgabe
in der "FAZ" durch Eske Bockelmann, einen ehemaligen Mitarbeiter
der Forschungsstelle. "Die verleumderische Attacke erfolgte
mit Schützenhilfe der Büchner-Forschungsstelle",
beklagt sich Poschmann. Doch Dedner und Mayer weisen in diesem Punkt
jede Schuld von sich. Weder hätten sie Bockelmann mit der Kritik
beauftragt, noch habe dieser Hintergrundinformationen als "Munition"
erhalten, die über übliche Sachauskünfte hinausgegangen
seien.
Für Professor Dedner stecken hinter den Polemiken "verletzte
wissenschaftliche Eitelkeiten" und eine zehn Jahre alte wissenschaftliche
Kontroverse, in der er die Marburger Forschungsstelle im Recht sieht.
Dabei gehe es vor allem um Editionsprinzipien und die Frage, ob
im "Woyzeck" Dialekt gesprochen werde oder nicht. In Marburg
sei herausgefunden worden, dass in dem Dramentext anstelle eines
Dialekts die Hochsprache gesprochen werde. Poschmanns Übertragungen
der Handschriften würden die Sprache in ein "Kunsthessisch"
verwandeln. Poschmann hält dagegen, diese Einwände seien
"übergeschnappte Polemiken".
Grundsätzliches Ignorieren oder Schlechtmachen der Ergebnisse
anderer Forscher wirft Büchner-Forscher Herbert Wender aus
Saarbrücken seinen Kontrahenten Dedner und Mayer vor. Dedner
sieht für Wenders Verärgerung vor allem einen Richtungsstreit
in der Beurteilung von Büchners Drama "Dantons Tod"
als Grund. Daraus sei auch seine Ankündigung auf der letzten
Mitgliederversammlung erwachsen, "die Marburger Danton-Ausgabe
bis aufs letzte zu bekämpfen". Dritter im Bunde der ausgetretenen
Büchner-Forscher ist der Düsseldorfer Jan-Christoph Hauschild.
"Wissenschaftliche Differenzen in nahezu allen Fragen"
haben die Marburger Forscher mit dem Verfasser einer Büchner-Biographie.
_________________________________________________________________________
STICHWORT: Büchner-Forschungsstelle
und Büchner-Gesellschaft
Die von Professor Burghard Dedner geleitete
"Forschungsstelle Georg Büchner" ist seit 1980
an der Philipps-Universität angesiedelt und beschäftigt
sich mit "Literatur und Geschichte des Vormärz (insbesondere
in Hessen). Dabei stehen die Erforschung von Büchners Leben,
Werk und Wirkung im Mittelpunkt der Arbeit.
Die Forschungsstelle arbeitet in Fragen
von Sammlung, Forschung, Edition und Veranstaltungen eng mit der
Büchner-Gesellschaft zusammen. Ziele der 1979 von Wissenschaftlern
wie Thomas Michael Mayer gegründeten Gesellschaft sind unter
anderem das Hinwirken auf eine vollständige Dokumentation
der Quellen zu Leben, Werk und Rezeption Büchners sowie die
Förderung der Forschungsdiskussion und der Kontakt zwischen
Forschung und Öffentlichkeit. Neben Wissenschaftlern gehören
auch Lehrer, Volkshochschul-Mitarbeiter und Büchner-Liebhaber
zu den momentan 365 Mitgliedern der Gesellschaft. Von Forschungsstelle
und Büchner-Gesellschaft wurden bisher neun Jahrbücher
herausgegeben: Diese Jahrbücher sollen als aktuelles Forum
der einschlägigen Büchner-Forschung auf der ganzen Welt
dienen.
In der Forschungsstelle gibt es eine Bibliothek
mit umfangreichen Archiv- und Buchbeständen. Diese bieten
eine wichtige Grundlage für die auf 18 Bände angelegte
historisch-kritische Gesamtausgabe. Die im vergangenen Jahr erschienenen
ersten vier Bände konzentrieren sich 1640 Seiten lang auf
Büchners Erstlingswerk "Dantons Tod". Neben einer
Reinschrift mit einer Lesehilfe sind beispielsweise auch Zensurstreichungen
und die Auflistung von Druckfehlern darin versammelt. Die historisch-kritische
Ausgabe, die 2012 - ein Jahr vor Büchners 200. Geburtstag
- beendet sein soll, ist nach den Worten von Forschungsstellenleiter
Burghard Dedner als eine Art "Dauerausstellung in Buchform"
gedacht.
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Saarbrücker Zeitung,
12. Juli 2001:
Nur Philologengezänk?
Von Gesamtausgaben, Klüngel und angeblichen
Intrigen.
Warum die Büchner-Gesellschaft in Verruf geraten ist und
mehrere Büchner-Forscher inzwischen ihren Austritt erklärt
haben. Von Christoph Schreiner
Schon seit einem Jahr lag dunkles Gewölk über der Marburger
Georg-Büchner-Gesellschaft. Was zunächst im einen oder
anderen Philologenwinkel grummelte und sich dann über den Elfenbeintürmen
zusammengebraut hat, das fand nun seine öffentlichkeitswirksame
Entladung: Zwei Büchnerianer sind dieser Tage unter lautem
Türenschlagen aus der Gesellschaft ausgetreten. Nr 4 und 5
seit dem letzten Jahr. Das Klima ist vergiftet, der Ring für
private Schaukämpfe frei (beim Büchner-Spezialisten Henri
Poschmann unter www.georg-buechner-online.de nachzulesen). Warum?
Die Gilde der Büchner-Forscher liegt schon seit geraumer Zeit
über Kreuz. Seitdem der 1979 gegründeten, in Marburg ansässigen
Büchner-Gesellschaft vorgeworfen wird, die an der dortigen
Universität beheimatete Büchner-Forschungsstelle zum Nachteil
anderer Büchnerexperten zu begünstigen. Der Saarbrücker
Büchnerforscher Herbert Wender, der mit zu den Ausgetretenen
gehört, wirft der Marburger Forschungsstelle, die erst mit
Geldern der Deutschen Forschungsgemeinschaft und inzwischen der
Akademie der Wissenschaften Mainz seit 1987 eine historisch-kritische
Büchner-Ausgabe herausgibt, Parteinahme vor: "Was von
der Konkurrenz kommt, wird entweder ignoriert oder schlechtgemacht",
moniert Wender. In Marburg quittiert man derlei mit Kopfschütteln.
Nein, den Austritt Wenders bedauere er nicht, sagt Burghard Dedner,
Vorsitzender der Büchner-Gesellschaft und in Personalunion
auch Leiter der Büchner-Forschungsstelle. Wender habe versucht,
"die Büchner-Gesellschaft zu zerstören". Mittlerweile
sei da "ein Kleinkrieg entstanden, der längst ins Persönliche
geht", resümiert Thomas Michael Mayer, mit Dedner Herausgeber
der historisch-kritischen Büchner-Ausgabe.
Willkommener Anlass des Disputs war zunächst eine von der
Büchner-Gesellschaft über Jahre hinweg übergangene
zweibändige, im Deutschen Klassikerverlag erschienene Büchner-Edition
des Weimarer Büchner-Forschers Henri Poschmann. Im Jahrbuch
der Büchner-Gesellschaft fand sich kein Raum für eine
Kritik dieser verschiedentlich als "bisher umfassendste Büchner-Gesamtausgabe"
apostrophierten Arbeit. Dedner weist darauf hin, das Jahrbuch müsse
inzwischen auf Rezensionen verzichten. Doch für eine polemische
Attacke gegen die Büchner-Biografie Jan-Christoph Hauschilds
war andererseits Platz - aus der Feder von Thomas M. Mayer. Hauschild
wiederum, der auch eine umfangreiche Edition von Büchners Briefwechsel
auf den Weg brachte, gehört bekanntermaßen zu den schärfsten
Kritikern der Marburger und ihres auf 18 Bände angelegten Büchner-Editionsprojekts.
"Wer Goethe auf diese Weise edieren wollte, brauchte locker
mehr als tausend Bände" höhnte Hauschild, der wie
Wender der Büchner-Gesellschaft den Rücken gekehrt hat,
vor einiger Zeit im "Spiegel". Alles nur ein philologisches
Pingpong-Spiel nach dem Motto "Zahn um Zahn"?
Allein "Dantons Tod" wuchs sich unter den akribischen
Händen der Marburger MonumentaI-Textexegeten auf vier Bände
und 1640 Seiten aus und verzeichnet jeden Klecks, jedes fehlende
Komma. Mag man sich über so viel pedantische Textarchäologie
auch amüsieren, die Wissenschaft profitierte immer wieder von
den Pionierarbeiten historisch-kritischer Werkausgaben, ob man nun
an die Frankfurter Hölderin-Ausgabe von Dietrich F. Sattler
denkt oder an die Brandenburger Kleist-Ausgabe. Lebenswerke, die
zu würdigen zumeist einem kleinen Forscher-Zirkel vorbehalten
bleibt. Kaum jemand sonst wühlt sich durch ein die Chronologie
der Textentstehung abbildendes, hoch kompliziertes Entzifferungs-
und Quellengestrüpp. Ob sich der Erkenntnisgewinn im Falle
der Büchner-Ausgabe am Ende einstellen wird, steht noch dahin.
Die Frontkämpfe kennen keinen Fraktionszwang: Hauschild etwa
hat Poschmann eine "bis ins Surreale gesteigerte Streitlust"
assistiert (sic!). Manches von dem, was da an harschen Worten ins
Feld geführt wird, gehört wohl in die Schublade gekränkter
Forscherehre. Und doch geht es um mehr: um den Vorwurf der Parteinahme.
Den Marburgern wird, was die wiederum völlig absurd finden,
unterstellt, die Büchner-Forschung monopolisieren zu wollen.
Der Versuch Herbert Wenders, auf der Jahresversammlung der Büchner-Gesellschaft
die organisatorische Trennung von der Forschungsstelle zu beantragen,
ging ins Leere. Als "Abschiedsgeschenk" hat er den Marburgern
einen Sonderdruck seiner philologischen Kritik der "Danton"-Edition
hinterlassen. Die Kontroverse kratzt am Image der Forscherzunft
"Das wirkt nach", fürchtet selbst der Vorsitzende
der Büchner-Gesellschaft, Burghard Dedner.
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Frankfurter Rundschau,
17. Juli 2001
Der philologische Ego-Trip
Über die Paralyse der Georg Büchner-Gesellschaft
Von Heribert Kuhn
1982 erschien von Hartmut Geerken, damals Mitarbeiter des Goethe-Instituts
in Athen und bekannt auch als Pilzkundler, ein Buch mit dem Titel
sprünge nach rosa hin. Geerken firmierte als Autor,
sein Ehrgeiz aber war darauf gerichtet, Handschriften eines anderen
zum Leben zu verhelfen und dies mit äußerster Konsequenz.
Als Nachlassverwalter Salomon Friedländers, der 1933 nach Paris
emigrierte, wo er 1946 auch starb, suchte Geerken die totale Verwandlung
zum editorischen Medium des unglücklichen Mynona, wie das auch
als Palindrom lesbare Pseudonym Friedländers lautet.
Von dem, was in den 170 handschriftlichen Heften tatsächlich
zu lesen ist, erfährt man wenig. Jedoch werden die Schriften
des Philosophen in ihrer materiell sinnlichen Erscheinung heraufbeschworen
und dem Sensorium des Lesers überantwortet. Geerken bestimmt
den optischen, haptischen, ja sogar olfaktorischen Status jedes
einzelnen Heftes, und weil ein solches Verfahren abhängig ist
von subjektiven Befindlichkeiten des Wahrnehmungsapparates, liefert
er als totaler Herausgeber Protokolle seines jeweiligen Apperzeptionszustands:
Die Qualität von Licht und Schreibort, die Temperatur,
auch der Einfluss von Whisky und Fliegenpilz werden als Parameter
der sinnlich-intellektuellen Anverwandlung der Handschriften festgehalten.
Indem Geerken alle Pforten der Wahrnehmung öffnet, glaubt
der Leser bald, das Friedländer-Corpus in all seiner Stofflichkeit
vor sich zu haben: "das heft hat wie gezählt 100 seiten
das karierte papier ist holzhaltig die abgerundeten ecken &
die kanten des heftes sind leicht filzig vom vielen brauchen der
geruch ist leicht säuerlich wie nach meerwasser & kaltem
täuschling & er hat verschiedene Schreibgeräte verwendet
oder aber der fluß aus einem von ihnen war unregelmäßig
... innen & außen nichts auch kein fleck der sowieso nicht
zu transkribieren war die schrift ist immer auf der flucht
in den klecks".
Geerkens "Edition", die die originale Erscheinung eines
Werks zu. verdoppeln sucht, stellte seinerzeit die radikalste Verwirklichung
des seit Mitte der siebziger Jahre als editionstechnisches
Nonplusultra geltenden Verfahrens dar, Dichter-Handschriften in
Form von Faksimile-Drucken herauszugeben. Ein ausgeklügeltes
Transkriptionssystem stellt dabei sicher, dass die Textentstehung
in allen Phasen nachvollzogen werden kann. 1982 lagen von der hierfür
initialen Frankfurter Hölderlin-Ausgabe bereits mehrere Bände
vor, die demonstrierten, wie Treue dem Werk eines Dichters gegenüber
auszusehen habe.
Der Anspruch von Friedrich Beißners Großer Stuttgarter
Ausgabe, das Werk Hölderlins zu repräsentieren, war auf
demokratieträchtige Weise in Frage gestellt worden: Jede Ermessensentscheidung,
die Beißner getroffen hatte, stand neu zur Debatte, weil ihre
materielle Basis offengelegt worden war. Vom Pathos dieses am Material
orientierten Authentizitismus zehrte Geerkens Buch. Es lieferte
zwar kein Faksimile der Mynona-Handschriften, unübertrefflich
aber vergegenwärtigte es einen Entdeckungs-, Anverwandlungs-
und Wiedererweckungsrausch, der das handschriftliche "Urmaterial"
gegen die existenz- und produktionsferne Ignoranz herkömmlicher
Herausgeberpraxis aktivieren wollte.
Diesen beflügelnden philologischen Furor vergangener Zeiten
muss man berücksichtigen, will man die desaströse Situation
verstehen, in der sich inzwischen die Georg Büchner-Gesellschaft
befindet. Seit 1980 existiert in Marburg eine Forschungsstelle,
die sich die Erarbeitung einer historisch-kritischen Ausgabe
zum Ziel setzte, deren Anspruch sich auch aus den Verheißungen
der Faksimile-Edition ergab. Das Werk Büchners, dessen Erforschung
und Rezeption sich auf eine umstrittene Textgrundlage beziehen müssen,
sollte neu herausgegeben werden. Die Mitglieder der Georg
Büchner-Gesellschaft waren motiviert; es erschienen Leseausgaben,
Textgrundlagen, über die Diskussionen in Gang
kamen, und ein Jahrbuch dokumentierte den Gang der Forschung. Mustergültig,
wie sich hier ein intellektuelles Kräftefeld organisierte,
dem zuzutrauen war, dass es Büchners Werk eine verlässliche
textkritische Basis und die angemessene Wirkung verschaffen werde.
Inzwischen aber ist in der Forschungsszene geradezu fatalistische
Ernüchterung eingekehrt. Geduld gehört zu den unerlässlichen
Tugenden des Philologen; und so hätte die Tatsache, dass nach
den als "überschaubarem" Editionszeitraum veranschlagten
15 Jahren noch kein einziger Büchner-Band erschienen
war, die Loyalität der Forscher gegenüber dem Marburger
Projekt nicht unbedingt beschädigen müssen.
Zunehmend für Irritationen sorgte jedoch der Gebrauch, den
die beiden Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe, Burghard
Dedner und Thomas Michael Mayer, von ihrem Privileg als bestallte
Handschriftenprüfer machten. Die im Deutschen Klassiker
Verlag erschienene Büchner-Ausgabe Henri Poschmanns, überhaupt
wissenschaftliche Beiträge wurden mit dem Hinweis auf anstehende
Entdeckungen der im Entstehen begriffenen Edition als irreführend
und damit unbrauchbar abgewertet. Vor allem Thomas Michael Mayer
kultivierte virtuos die Kunst des Dauer-Suspense: Seit 20 Jahren
wacht er über einen umfänglichen historischen Bestand
von Proceßakten, aus denen er bei Bedarf zitiert, den
aber niemand einsehen darf, Verständlich, dass der Elan anderer
Forscher erlahmt, die sich ständig mit einem Material- und
Deutungsmonopol konfrontiert sehen, das ihre Beweisführungen
und Interpretationen schon vorab marginalisiert. Renommierte Wissenschaftler,
so Henri Poschmann, der Düsseldorfer Büchner-Biograf Jan-Christoph
Hauschild und der Saarbrücker Büchner-Spezialist Herbert
Wender sind denn auch inzwischen aus der Büchner-Gesellschaft
ausgetreten.
Inkooperativer Ehrgeiz und Attitüde Einzelner hätten
allerdings den Zustand der Lethargie nicht allein herbeiführen
können, der die Büchner-Forschung lahmt. Sie finden vielmehr
in den Prinzipien einer immer monströser werdenden Editionspraxis
ihre vermeintliche Rechtfertigung. Der Handschriftenmaterialismus
führte zu einer editorischen Skrupulosität, die den Eindruck
vermittelt; eine finale Edition sei eigentlich Verrat am dichterischen
Werk. Anders ist nicht zu erklären, dass die Ende letzten Jahres
endlich erschienenen vier Bände zu Dantons Tod für
Nichtspezialisten praktisch unbenutzbar sind: Ein Register, sonst
Standard, fehlt ganz. Die wichtigste Neuerung, eine Szenenumstellung,
bleibt ohne Begründung. Der 1600-Seiten-Klotz "sagt"
bestenfalls: Alles ist sehr, sehr komplex! Auf 14 Bände ist
das Gesamtwerk inzwischen angelegt; 2012 soll es in Gänze vorliegen,
mit Band eins ist 2010 (!) zu rechnen.
Die Faksimile-Technik aber, die früher einmal dem Leser Entscheidungen
der Spezialisten nachvollziehbar machen sollte, ist mit der Geschichte
der Büchner-Edition in Verruf geraten, eine Domäne exklusivitätsbedürftiger
Monomanen zu sein, für die Werktreue in der Verhinderung der
Wirkung eines Werkes gipfelt.
Süddeutsche Zeitung,
22. Februar 2002
Der Himmel ist leer
Fußnotenkrieg:
Wie die Philologen um Georg Büchner streiten
Am 19. Februar 1837 starb, nachmittags um
halb vier, in einem einfachen Zimmer in der Zürcher Steingasse,
die heute Spiegelgasse heißt, der junge Privatdozent Georg
Büchner an Typhus: Er hatte sich möglicherweise bei seinen
Präparationen mit dem Skalpell infiziert. Was der bei seinem
Tod im Exil gerade Dreiundzwanzigjährige noch alles hätte
schreiben können, und was er selbst noch aus jenen Manuskripten
gemacht hätte, die sich in seinem Nachlaß fanden, kann
niemand sagen. Selbst schmal, wie es ist – drei Dramen, eine Novelle,
zwei Übersetzungen, fast alle nur Fragment –, wurde sein Werk
zu einer Revolution der Literatur.
Obwohl Büchners Geltung unbestritten
ist, steht sein Werk seit einiger Zeit wieder im Mittelpunkt heftiger
Polemiken. Wenn dieser Tage, 165 Jahre nach seinem Tod, endlich
der (erneut verspätete) nächste Band der historisch-kritischen
Büchner-Ausgabe mit dem "Lenz"-Fragment erscheint,
ist die nächste Runde eines Gelehrtenstreits zu erwarten, der
von außen gesehen reichlich absurd anmutet.
Dabei hatte alles so aussichtsreich begonnen.
In den siebziger Jahren fingen einige junge Wissenschaftler damit
an, die in alten Fronten erstarrte Büchner-Forschung durcheinander
zu wirbeln. Nicht mehr um wolkige Phrasen von Büchners "Nihilismus"
oder "Fatalismus", um christliche Eingemeindungen oder
brave Stilanalysen sollte es gehen, sondern um den Revolutionär,
um all die vergessenen historischen Bezüge und Quellen seiner
Texte, und – vor allem – um diese Schriften selbst: Kein einziger
größerer Text Büchners lag in einer wirklich unproblematischen
Ausgabe vor.
Editoren im Untergrund
Also wurden die Büchner-Gesellschaft
und, nach einigen Mühen, eine Forschungsstelle in Marburg gegründet
und eine Neuausgabe projektiert. Über die Jahre hinweg erschienen
dann Dissertationen, ungeheuer viele Aufsätze und etliche Studienausgaben
einzelner Texte. Ausgerechnet die Krönung des Ganzen, die historisch-kritische
Ausgabe, wurde dann aber Anstoß einer erbitterten Kontroverse.
Im Juli 2001 meldete dpa schließlich den erzürnten Austritt
von drei renommierten Forschern aus der Georg-Büchner-Gesellschaft.
Was also ist passiert?
Äußerer Anlass der Eskalation
war im November 2000 das Erscheinen von "Danton’s Tod"
als erstem Band der neuen Edition, welche die Marburger Burghard
Dedner und Thomas Michael Mayer herausgeben. Damit wurden nicht
nur die Wunden eines anderen Büchner-Herausgebers, Henri Poschmann,
wieder aufgerissen, und ein alter Interpretationsstreit um das Drama
wieder akut. Vor allem nahmen einige Medien die Sache als gute Gelegenheit,
sich lustvoll über die verstaubte Philologie mit ihren gelderfressenden
Großeditionsprojekten herzumachen. Ein Spiegel-Artikel rechnete
den Marburger Editoren vor, dass sie für die Herausgabe eines
Textes, den der Autor in fünf.Wochen geschrieben habe, 15 Jahre
gebraucht hätten; dass man ihn zudem bei Reclam für vier
und bei dtv für sechs Mark bekäme – statt der jetzt fälligen
480 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, und dass in der
"Dünenlandschaft gelehrter Anmerkungen" das Faksimile
der Büchner-Handschrift noch das Lesbarste sei.
Leider ist diese witzige Bilanz ziemlicher
Unsinn. Büchners Arbeit am Stoff dauerte sicher länger
als ein Jahr und ist nur höchst mühsam zu rekonstruieren;
die Reclamausgabe (von 1958) ist völlig veraltet, und für
sechs Mark bei dtv erhält man erst recht nicht Büchners
Text, sondern den seines Erstdrucks von 1835, den der Verleger schon
prophylaktisch von allen möglichen politischen und erotischen
Anstößigkeiten "reinigte": Dantons berühmtes
"Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?"
zum Beispiel ist dort nur das, "was in uns lügt, stiehlt
und mordet". Diese Ausgabe, die Büchner selbst heftig
erzürnte, war "die Ruine einer Verwüstung",
wie ihr Redakteur Gutzkow später zerknirscht eingestand, und
die Spur dieser Verwüstung zog sich bis heute durch alle Büchner-Ausgaben.
Dantons Not
Gerade um endlich einen authentischen Text
von Büchners Revolutionsdrama lesen zu können, bedurfte
es – darüber waren sich wohl selbst die streitenden Gelehrten
einig – einer kritischen Ausgabe; und deren einzig maßgeblicher
"Textzeuge" konnte nur die Handschrift des Autors sein.
Doch damit beginnen schon die Probleme. Wie ist hier mit einzelnen
kaum entzifferbaren Worten zu verfahren? Gab es nach dieser Handschrift
vielleicht noch eine weitere Reinschrift Büchners, die als
Druckvorlage diente – hat er also einige der Abweichungen im Druck
selbst verlangt? Und was tun mit den Korrekturen, die er selbst
noch in Exemplaren des Buches vornahm, welche er – trotz seines
Missmuts – zwei Freunden widmete, die aber wiederum vom Text der
Handschrift abweichen?
Doch wer nach dem Motto denkt: "Wozu
kritische Ausgaben? Bücher kann man doch in der Buchhandlung
kaufen", braucht sich um solche komplizierte Fragen nicht zu
kümmern. Die flott geschriebene Spiegel-Polemik gab das Niveau
der Debatte vor, die schließlich soweit ging, dass den Herausgebern
tatsächlich ihre "Skrupulosität" zum Vorwurf
gemacht wurde. Da reibt man sich dann doch etwas verwundert die
Augen: Ist das nicht im Zweifelsfall die größte Qualität
kritischer Editionen?
Freilich: Die Marburger waren nicht nur skrupulös.
Sie verwandelten den "Danton" auch in ein Monument von
über 1600 Großformatseiten in vier Teilbänden, das
zur Erläuterung der Entstehung nicht weniger als die gesamte
Biografie Büchners einschließlich Großeltern sowie
eine Aufarbeitung hessischer Untergrundbewegungen aufbietet, die
einen Verfassungsschützer der siebziger Jahre begeistert hätte.
Das jedoch geschah in der erkennbaren Absicht,
nicht nur den Text vorzulegen, sondern auch seine Deutung zu dirigieren.
Einige kritische Ausgaben der letzten Zeit haben mit gutem Grund
überhaupt auf Kommentare verzichtet; sie sollen ja neue Interpretationen
ermöglichen, nicht alte vorschreiben. Im Marburger "Danton"
indes wird, und zwar weit über (höchst kenntnisreiche)
Sacherläuterungen hinaus, selbst im Editionsbericht fleißig
interpretiert. Aber warum zum Beispiel das in der Forschung strittige
Verhältnis Büchners zu seinem Vater für die Editionslage
des Danton-Textes relevant sein soll, erschließt sich selbst
dem gutwilligen Leser nicht.
Kurioses Pseudo-Hessisch
Dem wissenschaftlichen Gegner in diesem Disput
aber erschließt es sich natürlich schon gar nicht, und
damit war ein erster Sprengsatz gelegt. Der Büchner-Biograph
Jan-Christoph Hauschild trat aus der Büchner-Gesellschaft aus,
zumal einer der Marburger Herausgeber, Thomas Michael Mayer, im
letzten Jahrbuch der Gesellschaft eine geradezu geifernde Polemik
gegen seine Arbeiten veröffentlicht hatte. Ebenfalls ausgetreten
ist der Saarbrücker Büchner- Forscher Herbert Wender,
der eine andere Interpretation des Dramas vertritt, den Marburgern
aber auch philologische Fehler und die Unterdrückung abweichender
Meinungen vorwirft.
Die Editorenkonkurrenz schließlich
motivierte den Austritt Poschmanns schon Ende 1999: Dieser hatte
eine große kommentierte Studienausgabe aller Büchner-Texte
im Frankfurter Klassiker-Verlag herausgegeben und hielt den Marburgern
nun vor, sie würden unendlich träge arbeiten, seine Ausgabe
ignorieren oder Rezensenten manipulieren und übernähmen
schließlich auch noch seine Erkenntnisse.
Auch hinter diesem Konflikt stecken natürlich
Interpretationsfragen. Ein gutes Beispiel bietet der "Woyzeck":
Von Büchners letztem Stück sind lediglich einige Handschriften-Konvolute
überliefert, die sich zudem überschneiden und alle noch
sehr viel schwerer lesbar sind als die Danton-Handschrift: So wurde
eine Zeichenfolge schon als "ein Regiment Kastrierte"
oder "ein Regiment Kosacken" entziffert.
Hinzu kommt hier aber eine Besonderheit.
Büchner hatte wie viele Schreibende die Angewohnheit, Endsilben
zu verschleifen, also beispielsweise beim Wort "benennen"
die immerhin vierzehn senkrechten Striche, die er in der deutschen
Kurrentschrift nach dem "b" dafür gebraucht hätte,
auf einige wenige zu reduzieren. Ediert man nun exakt nach der Handschrift,
entstehen Sätze wie "Er ersticht mich mit sei Auge",
obwohl Büchner sehr wahrscheinlich "seinen Augen"
meinte. In vielen neueren Ausgaben – auch der "Münchner
Ausgabe" bei dtv – führt dies nun dazu, dass gerade viele
Woyzeck-Figuren ein reichlich kurioses Pseudo-Hessisch reden; worauf
sich dann Schauspieler vom Boden- bis an die Nordsee vergebens abmühen,
diesen vermeintlichen Dialekt zu reproduzieren.
So lebte Kannitverstan hin
Andererseits enthält Büchners "Woyzeck"
aber unzweifelhaft Dialekt, wie in "Ich kann nit", und
nutzt gerade diese Dialektfärbung zur Kennzeichnung seiner
Figuren. Nach welchen Kriterien ist also zu entscheiden? Poschmann
hielt sich strikt ans Manuskript, was die Marburger ebenso ablehnten
wie seine ziemlich frei aus den Handschriften montierte Lese- und
Bühnenfassung. Das Wort "nicht zitierfähig"
fiel, was in Editorenkreisen ungefähr die Bedeutung einer Ohrfeige
in einem k.u.k.-Offizierskasino hat; und da man sich nicht mehr
duellieren kann, traktiert man sich nun im Internet auf diversen
Homepages.
In diesem Streit, dessen Fortsetzung anlässlich
des jetzt erscheinenden "Lenz"-Bandes fast programmiert
ist, geht es jedoch offenbar außer um Eitelkeit auch um Interpretationshoheit
und Diskursmacht. Editionen sind Verwaltungsinstanzen des kulturellen
Gedächtnisses; sie prägen das Autoren-Bild ganzer Generationen.
Statt diese Diskursmacht aber – vielleicht gerade im Sinn Büchners
– selbstkritisch zu begrenzen, sehen sich einige Beteiligte anscheinend
als Gralshüter seiner einzig richtigen Deutung; kämpferisch
und irgendwie seelenverwandt mit ihrem Autor sind sie ja allesamt.
Und so kommt man sich vor, als würden
die Forscher den blutigen Disput der Revolutionärsfraktionen
aus "Danton’s Tod" noch einmal als Farce nachspielen.
Die Büchner- Forschung, früher einmal ein Feld der Innovation
und Provokation in der Germanistik, hat nicht nur die Theorieentwicklung
der letzten Jahre so ziemlich ignoriert; sie scheint sich auch zu
einem Kampfplatz humorloser Rechthaber entwickelt zu haben, deren
immenses Detailwissen nur noch unlesbare Polemiken produziert und
deren Widerspruchsgeist sich in Fußnotenkriegen austobt.
Die "Revolution ist wie Saturn, sie
frißt ihre eignen Kinder", sagt Danton einmal: Vielleicht
ist die Edition wirklich revolutionärer Dichter genauso gefräßig.
MICHAEL OTT |